Relegation – FC Ingolstadt

Leise rauschen die Blätter im sanften Wind. Ein paar Vögel zwitschern, ein Hase hoppelt gemächlich auf dem Feldweg entlang. Keine Menschenseele ist unterwegs. Kornfelder, sanfte Hügel, Wald, der Zwieselhof, links taucht in einiger Entfernung der Fernsehturm auf. Rechts geht die Sonne in einem spektakulären Wolkenhimmel unter. Ich bin immer wieder gerne hier. Viele Jahre habe ich in Großweismannsdorf gelebt. Die Natur, die Gegend hinter dem Sportplatz, wo ich einst jeden Tag gelaufen bin, es fühlt sich noch vertraut an.

Plötzlich unterbrechen laute Jubelschreie das Idyll. Ich bleibe stehen. Verharre. Für einen winzigen Augenblick steht die Welt still. Ich kann nicht denken. Dann greife ich doch zu meinem Handy und öffne die Kicker-App. Es steht immer noch 3:0 für Ingolstadt. Im Millisekundentakt wische ich mit dem Finger über das Display. Aktualisieren. Aktualisieren. Aktualisieren. Hatte ich Halluzinationen? Habe ich etwas gehört, das ich unbedingt hören wollte? Dann lesen es meine Augen. Es dringt nicht sofort ins Gehirn vor. Da steht jetzt eine 1. Ich starre ungläubig auf das Display, bis mir der Ticker anzeigt, dass das Spiel vorbei ist. Immer noch steht da 3:1. Der Club ist nicht abgestiegen, steht da auch.

Nach weiteren Minuten des Wartens („Ist es wirklich aus?“), merke ich, wie meine Beine zu zittern beginnen und mir Tränen übers Gesicht laufen. Es ist, wie wenn man nach einer stundenlangen schweren Operation eines nahen Angehörigen oder Freundes die Nachricht erhält, dass alles gutgegangen ist. Dass der Patient lebt und es ihm „den Umständen entsprechend gutgeht.“ Die Erleichterung ist unbeschreiblich. Gleichzeitig bin ich auch wütend. Und überglücklich.

Der erste Anruf.

„Wo bist du?“

„Im Wald, bin gleich zurück im Sportheim.“

Von dort war ich nämlich nach dem 2:0 geflüchtet. Einfach kopflos und ohne nachzudenken bin ich losgelaufen in den Wald. Ich habe es einfach nicht mehr aushalten können, meine Nerven haben nicht mehr mitgespielt. Ich musste einfach raus und laufen.

Erste Nachrichten erreichen mich.

Von Marathonmann und Eishockey-Fan Bernd als allerersten. Er ist mit dem Rad auf Deutschland-Tour. „Alles ist gut…Puls runterfahren!“, schreibt er mir.

Metal- und Hertha-Fan Thies: „Glückwunsch an den Club, das ist ja der Wahnsinn!!!“

„Heute mindestens zehn Schnäpse!“, rät mir meine Kollegin aus Fürth, die mit Fußball nichts am Hut hat, aber weiß, wie mein Herz am Glubb hängt und dass ich beim 6:0-Erfolg gegen Wiesbaden für jedes Tor einen Schnaps trinken musste.

Meine Chefin, eingefleischte Kleeblatt-Anhängerin, freut sich „Auf das nächste Derby!“

Der Fahrlehrer aus Zabo fragt dezent nach: „Tot oder besoffen? Oder beides? Nix für schwache Nerven!“

Mein alter Schulfreund Gerhard, der vor vielen Jahre nach Chile ausgewandert ist, hatte mir um 19.42 Uhr diese Zeilen geschickt: „Nehmers Abschied sachd die Leingnfraa, mir wolln den Deggl schließn.“ A dübbischer Frangge hald. Aber er hat genauso gefiebert mit der ganzen Familie und befindet schließlich: „kompletter Wahnsinn.“

Mannheim vermeldet: „Alter. Dem Tod von der Schippe gesprungen. Fußball ist das Geilste.“

Und aus Stuttgart hatte man mir schon vorher immer wieder gesagt: „Glauba muaschd.“ Jaa!

In Düsseldorf hat man uns ebenfalls die Daumen gedrückt – auch die armen Fortunen sind ja leidgeplagt. Unsere Chat-Gruppe müssen wir jedenfalls umbenennen. Aus „Wiedervereinigung 1. Liga 2020“ wurde bekanntlich leider nichts. Wir probieren es mit „Aufstieg 2021“ – 2018 hat das schließlich schon mal prima geklappt.

Ja, Fußball verbindet, das hat sich in diesem Augenblick mal wieder eindrücklich gezeigt. Und zwar über Vereinsfarben hinweg und das ist wirklich großartig. 10000 Dank an alle, die an mich gedacht und mitgezittert haben!

Fehlen noch meine Eltern. Als ich meine Mutter anrufe, zehn Minuten nach Spielende, ist sie hörbar angeschlagen. „Claudia, ich bin fix und fertig“, sagt sie und klingt erschöpft. Aber auch glücklich. Und mein lieber Dad? „Ich hab die Nachricht an meine ganzen Glubb-Freunde in der 90. Minute schon vorbereitet gehabt“, raunt er ins Telefon. Er muss es gar nicht aussprechen, ich weiß schon vorher, wie der Inhalt gelautet hätte. „Der Glubb is hald a mol wieder a Debb.“ Gut, dass er sie nicht abschicken musste. Er sottert und schimpft natürlich trotzdem noch („Der Abstieg wäre nicht unverdient gewesen. Wie kann man sich innerhalb von 15 Minuten drei Tore einschenken lassen..“). Aber dann schickt er mir doch voller Stolz ein Video vom erlösenden Schleusener-Treffer, weil den die Tochter ja nicht gesehen hat.

Eines hat sich mal wieder eindrücklich gezeigt: Wenn ein Fußball-Fan sagt, er habe schon alles erlebt, dann kann er kein Glubb-Fan sein.

Diese Saison hat alles getoppt, was ich bisher mit diesem Verein, dem Ruhmreichen, erlebt habe. Die Achterbahn, die auch nur annähernd meine Gefühlslagen nachzeichnen könnte, muss erst noch erfunden und gebaut werden.

Auch wenn wir mit einem tiefdunkelblauen Auge davon gekommen sind, und wir uns jetzt auch zurecht freuen dürfen darüber, muss trotzdem eines klar sein: So kann es definitiv nicht weitergehen. Es liegt viel Arbeit vor den Verantwortlichen des FCN.